EM-Neuling Nordirland hat zwei Legenden: George Best und Harry Gregg. Einer von beiden ist ein echter Held.
Ob sie immer noch feiern? Vermutlich. Das kleine Nordirland hat sich für die EM 2016 qualifiziert, es ist der größte Erfolg der jüngeren Verbandsgeschichte. Das Turnier in Frankreich wird um einen Exoten reicher sein. Denn namhafte Spieler hat Nordirland gegenwärtig nicht zu bieten. Dafür einige unglaubliche Erinnerungen.
George Best war Nordire. Ein Genie, ein echter Ballkünstler, der mit Anfang 20 der vielleicht beste Spieler des Kontinents war. Irgendein findiger Fan kreierte mal diesen wunderbaren Slogan: »Pele Good, Maradona Great, George Best«. Best holte 1968 den Europapokal der Landesmeister mit Manchester United, leider endete sein Leben später tragisch: viel zu früh starb der notorische Spieler, Frauenheld und Trinker im Alter von 59 Jahren an den Folgen seines exzessiven Alkoholkonsums.
Aber dieser Sieg 1968 hat ihn zur Legende auf Lebenszeit werden lassen. Und hier finden wir auch die Brücke zu einem anderen nordirischen Helden. Es war der Torwart Harry Gregg, der mithalf, das Fundament für diesen Europapokal-Triumph von United zu legen. Gregg hatte dafür sein Leben riskiert.
Rückblick. Am 6. Februar 1958 sitzt Harry Gregg mitsamt seiner Mannschaft, Funktionären, Journalisten und anderen Passagieren in einer Airspeed Ambassador der British European Airlines und schiebt sein Buch weit von sich. »Die Peitsche« von Roger McDonald. Später wird Gregg sagen: »Ein Werk, dass du als religiöser Mensch nicht unbedingt lesen solltest. Ich dachte: wenn ich mit diesem Buch in der Hand sterben werde, werde ich in der Hölle landen.« Gregg hat allen Grund zur Besorgnis. Bereits zweimal musste der Start der Maschine auf dem Flugfeld von München-Riem abgebrochen werden, es schneit, die Sicht ist schlecht, die Rollbahn nicht wirklich freigeräumt, wir befinden uns im Jahre 1958. Wie sich später herausstellen wird, hätte die Maschine nicht noch ein drittes Mal starten dürfen. Aber das ist später.
Jetzt, um exakt 15.03 Uhr, setzt sich das Flugzeug wieder in Bewegung. Die Piloten haben sich dafür entschieden, es noch einmal zu versuchen. Was für ein fataler Entschluss.
Auf der verschneiten Rollbahn kommt es zur Katastrophe. Die Airspeed Ambassador schafft es nicht rechtzeitig abzuheben und rast in eine Wohnsiedlung, reißt auseinander, fängt Feuer. 23 Menschen sterben, darunter acht Spieler von Manchester United, des amtierenden englischen Meisters, der gerade auf dem Rückweg vom siegreichen Europapokal-Viertelfinale in Belgrad ist und sich eigentlich anschickte, die beste Mannschaft des Kontinents zu werden. »Busby Babes« hatte man die Auswahl von Trainer Matt Busby getauft, weil viele Spieler so unglaublich jung sind. Waren.
Harry Gregg überlebt wie durch ein Wunder. Später erinnert er sich an den Moment, der sein Leben verändern wird: »Alles war plötzlich totenstill. Kein Schrei, kein Geräusch. Nichts. Ich dachte, ich sei tot.« Doch Gregg lebt, der bullige Torwart ist nahezu unverletzt. Als Schlussmann ist er schon immer verehrt worden. Doch jetzt wird der Nordire zum Helden.
Infos zu Harry Gregg:
Geburtstag: 27.10.1932
Größe: 1,83 cm
Vereine als Spieler: Doncaster Rovers (94 Spiele), Manchester United (210), Stoke City (2)
Länderspiele: 25 für Nordirland
Erfolge: WM 1958: Einzug ins Viertelfinale und Wahl zum besten Torhüter des Turniers
Obwohl ihn einer der ebenfalls unversehrten Piloten anweist, sich sofort von der brennenden Maschine zu entfernen – Teile des Wracks können jederzeit explodieren – sucht Gregg nach seinen Mitreisenden. Und findet ein Baby im weißen Strampelanzug. Rettet es. Es wird ein Auge verlieren, aber dank des Torwarts überleben. Dann zieht er auch noch die Mutter des Säuglings aus dem Wrack, es ist die Gattin eines in London beschäftigten jugoslawischen Diplomaten. Viele Jahre später, 2008, wird er Vera Lukic und ihre Tochter Vesna im Zuge einer Dokumentation über das »Munich Air Disaster« wiedertreffen. Und dabei erfahren, dass Frau Lukic zum Zeitpunkt des Unglücks schwanger war. Auch Zoran Lukic hat sein Leben Harry Gregg zu verdanken.
Unermütlich machen Gregg und die anderen Überlebenden weiter, befreien Menschen aus den Trümmerteilen, leisten Erste Hilfe. Dann endlich treffen die deutschen Rettungskräfte ein. Im Krankenhaus »Rechts der Isar« leisten die Ärzte unter der Leistung des Chef-Chirurgen Georg Maurer später wahre Wunderdinge. Trainer Matt Busby überlebt. Für andere kommt jede Hilfe zu spät. Greggs Torwart-Kollege Frank Swift stirbt auf dem OP-Tisch, das gefeierte Sturmtalent Duncan Edwards kämpft viele Tage mit dem Tod – und verliert.
Wie mag es Harry Gregg wohl ergangen sein, als er Stunden nach der Katastrophe mit seinem Mitspieler Bill Foulkes auf einem Hotelzimmer sitzt? Notseelsorge ist 1958 offenbar noch ein Fremdwort in München. Im Hotel der United-Spieler findet eine ausgelassene Faschingsparty statt. Beide ernten noch verständnislose Blicke, als sie den Deutschen Partybiestern mit Händen und Füßen mitteilen müssen, dass ihnen heute nicht wirklich nach Feiern zumute ist.
Weitermachen, immer weitermachen hat einer von Greggs Nachfolgern als Weltklasse-Keeper mal gesagt. Bei Oliver Kahn ging es um Fußballspiele, bei Harry Gregg um das Leben nach der Tragödie. Weitermachen, einfach weitermachen. Vielleicht geht das nur so, wenn man nicht wahnsinnig werden möchte. Also steht er am 19. Februar 1958 wieder im Tor. 13 Tage nach dem Air Disaster. Das Pokalspiel gegen Sheffield Wednesday gewinnt die Mannschaft, notdürftig zusammen geflickt aus Jugendspielern und Akteuren der zweiten Mannschaft, mit 3:0. Harry Gregg hält jeden Ball. Der Held ist jetzt wieder Torhüter. Vielleicht ein Weg zurück in die Normalität.
Doch was ist Normalität, wenn man so etwas erlebt hat? Die Sekunden vor dem Crash. Das Feuer. Die Explosionen. Die Schreie. Das Blut. Die Leichen. Die Totenstille. Zumal das Leben noch weitere Katastrophen für Harry Gregg bereit hält. 1961 stirbt seine Frau Mavis an Krebs. Der Keeper hatte sie erst ein Jahr vor dem Unglück von München geheiratet. Und im April 2009 wird auch seine zweite Tochter Karen vom Krebs dahingerafft. Da ist sie erst 50 Jahre alt. Manche Menschen zerbrechen schon an einer solcher Geschichten.
Gregg aber spielt ausgerechnet im Jahr der Katastrophe seine vielleicht beste Saison. Mit Nordirland fährt er zur WM 1958 nach Schweden und erreicht sensationell das Viertelfinale. Gregg wird anschließend zum »Torhüter des Turniers« gekürt. Sein Meisterstück hat er im Gruppenspiel gegen Deutschland abgeliefert. Zwar endet die Partie mit 2:2, aber vorher pariert Gregg so unglaublich gut, dass ihm der damalige WM-Debütant Uwe Seeler später ein ganzes Kapitel in seiner Biografie widmet.
Ein großer Titel bleibt ihm allerdings verwehrt. Das FA-Cup-Finale 1958 verliert Uniteds Rumpfelf knapp, den Pokalerfolg 1963 verpasst er wegen einer Schulterverletzung. Und weil er ebenfalls aufgrund von Verletzungen zu wenig Einsätze macht, bekommt er für Uniteds Meisterschaften 1965 und 1967 keine Medaille verliehen. Andere Zeiten. Im Dezember 1966 verlässt er Manchester United und versucht es noch einmal bei Stoke City. Die große Karriere des Helden von München endet nach zwei Einsätzen. Zum Saisonende 1966/67 hängt Harry Gregg die Handschuhe an den Nagel. Den Triumph der wiederformierten zweiten Generation der »Busby Babes« – unter anderem mit seinem Landsmann George Best – verfolgt er als Fußball-Rentner.
Seine Versuche, es als Trainer zu Glanz und Gloria zu schaffen, sind nicht der Rede wert. Wie das häufig so ist bei Ausnahmespielern: sie verblassen einfach zu sehr im Vergleich mit der aktiven Karriere. Später übernimmt er ein Hotel an der nordirischen Küste, doch auch das gibt es heute nicht mehr.
Harry Gregg aber lebt noch. Neben United-Legende Bobby Charlton – an dessen Rettung 1958 er ebenfalls einen entscheidenden Anteil hatte – ist er der einzige noch lebende Spieler von München-Riem. Nächstes Jahr spielen seine Landsleute bei der Europameisterschaft in Frankreich. Gregg wäre dann 83 Jahre alt. Wer würde es diesem Mann nicht wünschen, dass sein Land ein gutes Turnier spielt? Nordirland braucht neue Helden. Zumindest auf dem Fußballplatz.
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