Geschafft! FINALE! Juhu! Doch mit dem Kater der überbordenden EM-Euphorie folgt
die kritische Auseinandersetzung mit dem Halbfinale Deutschland gegen die Türkei.
Schaut man genauer hin, war das Semifinale ein Fest der großen und kleinen Fehler.
Ganz vorne mit dabei: Die beiden Torhüterdinos Jens Lehmann (38) und
Rüstü Recber (35).
Wo war die Sicherheit, wo die Ausstrahlung, die den deutschen Schlussmann im
Viertelfinale gegen Portugal so stark gemacht hatte? Lehmann schoss keinen
kapitalen Bock, doch seine ohne Zweifel vorhandene Erfahrung und Routine sah
man in Basel nur selten. Auch deshalb hatten sich ja Löw und Köpke vor der EM
auf den bei Arsenal London ausgemusterten Keeper geeinigt – er sollte der deutschen
Defensive die nötige Stabilität verleihen. Gegen die dezimierten Türken wirkte
Lehmann zu häufig nervös und fahrig. Gleich bei den ersten Flanken auf
sein Tor blieb er zu stoisch. Wo er gegen Portugal noch sanft die Bälle aus
dem Himmel gepflückt hatte, mangelte es gegen die (weiß Gott nicht besseren)
Flanken der türkischen Passgeber oft am Timing. Ein Spiegelbild daher das 1:0
für die Türken: Der Schuss von Kazim knallte gegen die Latte, Ugur
durfte aus vier Metern frei abschließen (22.). Kein Ball, den Lehmann
hätte halten müssen, und dennoch: Seine verzweifelte Hand-/Fußabwehr blieb
fortan im kollektiven Gedächtnis hängen. Weiter fiel auf, dass Lehmann
Probleme bei der Abstimmung mit seinem Vorderleuten hatte. Symptomatisch dafür
eine Szene in den Anfangsminuten als sich Lehmann in Feldspielermanier
Philipp Lahm als Anspielstation anbot. Der kleine Bayernspieler war darüber
so irritiert, dass er seinem Vereinskollegen Altintop den Ball im Strafraum
in die Füße spielte. Zum Glück für die deutsche Mannschaft,
dass Altintop mit dem unerwarteten Geschenk nichts Zählbares erreichen
konnte.
Am türkischen Torwart Rüstü scheiden sich ohnehin schon lange die Geister.
Der Torhüter, der einst mit dunkler Bemalung unter den Augen für Aufsehen sorgte,
hat seinen Zenit bereits lange überschritten (2002 wurde Rüstü nach einem
überragenden Turnier als zweitbester Torwart hinter Oliver Kahn ausgezeichnet).
Umso bitterer schmeckte die Rotsperre für die türkische Nummer Eins, Volkan
Demirel, da Rüstü auch gegen Deutschland alles andere als ein
sicherer Rückhalt war. Groteske Bewegungsabläufe vollführt Rüstü, wenn er mehr
als drei Meter aus seinem Tor kommen muss (auf der Linie ist er ganz gemäß
der türkischen Torhütergeneration weiterhin guter Durchschnitt). Viel zu selten
nutzten das die deutschen Offensivspieler aus. Erst nach 79 Minuten hatte Phillip
Lahm eine angemessene Flanke auf die Reise geschickt, Rüstü eilte dem
Ball entgegen, sein fehlende Orientierung nutzte Klose aus und köpfte
zum 2:1 ins Tor.
Fast schon zur Gewohnheit ist es bei dieser EM geworden, dass das türkische
Team einen Rückstand kurz vor dem Ende noch ausgleichen kann. Und auch gegen
Deutschland bewiesen die Spieler von Trainer Fatih Terim diese seltene
Fähigkeit: Sabri unterstrich mit einem simplen Trick die defensiven Schwächen
von Lahm (jedenfalls in diesem Halbfinale), seine Flanke fand Semih,
der den Ball unter den Armen von Lehmann hindurch einschieben konnte.
Beruhigend, dass Lahm seinen Fehler in der 90. Minute wettmachte. Nach einem
Zusammenspiel mit Hitzlsperger setzte er den Ball zum entscheidenden
3:2 ins Netz.
Deutschland steht im Finale. Um sich in Wien gegen den Sieger der Partie Russland-Spanien
durchzusetzen, benötigt die deutsche Auswahl allerdings eine erneute Leistungssteigerung.
Auch Jens Lehmann muss in seinem vermutlich letzten Spiel für die Nationalmannschaft
noch einmal an seine Grenzen gehen.
Das sagt torwart.de-Experte
Lars Leese
.„Dass
Lehmann bei den ersten Flanken von Portugal besser und stabiler
aussah, stimmt auf den ersten Blick. Andererseits: Die Hereingaben der
Türken hatten schon eine andere, bessere Qualität. Als Torhüter musst
du dann schnell entscheiden: Wie hoch kommt der Ball, mit wie viel Effet?
Ich fand, dass Jens Lehmann vor dem ersten Gegentreffer eine gute
Körpersprache hatte, er wirkte wohl dosiert aggressiv, das sah man deutlich
in einer Szene im Fernsehen, als er mit der Faust in die Handfläche geschlagen
hat und seine Mitspieler aufgerüttelt hat. Nach dem Treffer von Ugur wirkte
er allerdings wesentlich ruhiger, vielleicht fühlte er sich angreifbarer.
Obwohl man ihm beim ersten Tor keinen Vorwurf machen sollte. Im Nachhinein
denkt sich jeder Keeper: Den Ball hätte ich vielleicht mit den Füßen abwehren
sollen. Aber diese Situation, dass die Abwehr pennt und der Stürmer wenige
Meter vor dem Tor an den Ball kommt, hatten wir nicht das erste Mal bei
diesem Turnier. Da siehst du als Keeper eben doof aus. Das zweite Tor
würde ich Lehmann allerdings noch eher ankreiden, da muss er die Torwartecke
zumachen! Möglicherweise hatte er die Hereingabe verschätzt und war auf
dem Weg in die andere Richtung.
Rüstü hat beim Tor von Klose einen klaren Fehler
begangen, da müssen wir gar nicht drum herum reden. Aber: 60 Minuten lang
war er nahezu beschäftigungslos, bis auf einige Rückpässe oder weite Bälle
gab es nichts zu halten. Dann kommt diese Flanke von Lahm in der 79. Minute,
Rüstü will sich endlich beweisen in seinem letzten Turnierspiel, will
zeigen: Hier kommt Rüstü, ich will am Spiel teilhaben. Das ging natürlich
ziemlich in die Hose. Zwei Türken stehen bei Klose und Rüstü faustet
daneben. Er hätte seiner Mannschaft in dieser Situation wahrscheinlich
mehr geholfen, wenn er im Tor geblieben wäre.“