Man darf gespannt sein, ob jetzt in einem wahren Rausch die abertausenden
von Autofahnen wieder abmontiert werden, nach der unerwarteten Niederlage. Schließlich
hat die Vor-Euphorie auf die deutsche Nationalmannschaft auch wieder die Bevölkerung
erfasst, der Bogen war perfekt gespannt worden zwischen dem „Sommermärchen“
vor zwei Jahren und der Partyfortsetzung in Österreich/Schweiz. Dass die deutschen
Elitekicker jetzt in der Realität angekommen sind, verdeutlichten auf brutale
Weise die Kroaten. Die quirligen Angriffe bereiteten der deutschen Verteidigung,
allen voran der hablinken (Metzelder) und linken (Jansen) Defensivseite
große Probleme und auch Jens Lehmann, vor zwei Jahren noch ein Musterbeispiel
an unaufgeregter Souveränität, schien zumindest einiges an seiner Ausstrahlung
eingebüßt zu haben. Kleinere Wackler blieben ohne Wirkung, wie im ersten Spiel
gegen Polen konnte Lehmann zunächst die Schüsse des Gegners und dann
seine eigene Unsicherheit entschärfen. Beim ersten Treffer durch Srna musste
Lehmann mitverfolgen, wie Bayern-Profi Jansen seinem schwachen
Defensivspiel die Krone aufsetzte und den Gegenspieler nur drei Meter vor dem
Tor die entscheidenden Zentimeter gewährte.
Der Neu-Stuttgarter Lehmann bewahrte sein Team dann allerdings mit einem
starken Reflex gegen einen Schuss von Krancjar (42.) vor dem zweiten Gegentor,
doch ähnlich, wie seine Vorderleute war auch beim Schluss eine Spur v on Resignation
zu spüren. Wohin ist all die Selbstsicherheit beim immer so selbstsicher auftretenden
Lehmann? Wahrscheinlich ist, dass die vergangenen Monate, die ständigen Diskussionen
um seine Rolle in der DFB-Elf und letztlich der Vertragspoker um seine sportliche
Zukunft Spuren hinterlassen haben.
Gleich nach der Pause hatte Lehmann wieder so eine Szene, die Abwehrspielern
fast die Nerven kostet: Einen brettharten Schuss von Jungtalent Modric hielt
er zunächst sicher, um den Ball dann doch noch unter seinem Arm hindurch rutschen
zu lassen. Auf der Torauslinie bekam er das Spielgerät dann doch noch zu fassen.
Wesentlich beständiger in seinen Aktionen wirkte Kroatiens Pendant Stipe Pletikosa.
Der im Vorfeld der EM eher kritisch beäugte Mann von Spartak Moskau, wusste
durch gute Fangarbeit zu überzeugen, allerdings: die deutschen Angreifer machten
es ihm auch leicht. Nach 62 Minuten dann die spielentscheidende Szene: Eine
scharfe Flanke von Ivan Rakitic landete zunächst an Podolskis Rücken, der Ball
nahm ein völlig anderes Ziel und wäre wohl direkt im Tor gelandet, doch Lehmann,
der bereits rausgelaufen war um die Flanke abzufangen, konnte das Leder nur
noch an den Pfosten lenken. Den Abpraller fand in Ivica Olic einen dankbaren
Abnehmer. Das Spiel war entschieden, auch wenn Podolski mit seinem dritten Turniertreffer
noch einmal für Spannung sorgte.
Das sagt torwart.de-Experte
Lars Leese
torwart.de-Experte
Lars Leese verfolgte die deutsche Partie in Zürich, besser gesagt,
im Haus von Kommentator Marcel Reif. Zusammen mit dem befreundeten TV-Mann
und Fußball-Autor Christoph Biermann sah die „Expertenrunde“ eine
kontroverse Leistung des deutschen Torhüters: „Natürlich sieht Lehmann
beim zweiten Gegentreffer aus wie Karl-Arsch. Das ist eine ganz dumme
Situation für den Keeper, er steht ja schon drei, vier Meter vor dem Tor,
um die zu erwartende Flanke von Rakitic abzufangen. Bleibt er im Tor und
die Flanke kommt, ist das falsch. Also steht er weit vor dem Tor und als
er bemerkt, dass Podolski den Ball abfälscht, ist es fast schon zu spät.
Da lasten 90 Kilo auf seinem rechten Bein, bis er wieder in die Gegenrichtung
laufen kann, dauert das einen Bruchteil von Sekunden. Ich würde ihm diese
Szene nie als Fehler ankreiden, 70 % aller EM-Torhüter wäre das gleiche
passiert, vielleicht hätten andere den Ball auch noch um den Pfosten gelenkt.
Was mich, und auch Marcel Reif und Christoph Biermann irritiert hat, war
die offenbar fehlende Motivation, die man Lehmanns Gesicht ansehen konnte.
Normalerweise wummert da seine Halsschlagader, seine Augen sind aufgerissen
und sein ganzer Körper schreit: Ich will das Spiel heute gewinnen! Das
hat gegen Kroatien gefehlt. Wenn man allerdings die Fehler aller deutschen
Spieler zusammen rechnet, war Lehmann noch einer der besseren Akteure.
Der Kroate Pletikosa hat mich überrascht, wie schon gegen Österreich stand
er ziemlich gut und hat seinen Strafraum gut beherrscht, vor allem bei
Flanken. Aber: was waren das für Flanken? Die Dinger kamen aus dem Halbfeld,
waren einfallslos und ohne Ziel. Zudem waren die Flanken lang und weit,
die kamen mit viel Luft. Als Torhüter bist du ja dankbar über solche Bälle.
Pletikosa wurde von den Deutschen nicht sonderlich gefordert, ab 40 Meter
vor dem Tor war Feierabend.“
Kroatien:
Pletikosa - Corluka, R. Kovac, Simunic, Pranjic - N. Kovac - Srna, Kranjcar,
Modric, Rakitic - Olic