Der Schock hat sich also gelegt, die Show geht weiter. Das gigantische Enke-Trikot in der AWD-Arena wurde abgehängt. Optisch ist er im Stadion der Niedersachsen nur noch als kleine Eins auf den Trikots präsent. Mit dem Klub geschah inzwischen Dramatisches. Man muss sich das, was hinter den nackten Zahlen steht, noch einmal vergegenwärtigen: Nach dem letzten Spiel mit Robert Enke im Tor, es war ein ansehnliches 2:2 gegen den Hamburger SV, stand Hannover auf Platz zehn: vier Siege, vier Unentschieden, vier Niederlagen – alles lief wie immer bei den stets ambitionierten, aber meist harmlosen Niedersachsen. Was danach folgte, ist mit dem Wort Zäsur kaum zu erfassen. Es brach eine bedrohliche Krise über die Hannoveraner herein, wahrscheinlich die größte seit dem Wiederaufstieg. Die Mannschaft gewann nicht mehr und blieb neun Spiele in Folge sogar ohne jeden Punkt. Dabei spielten die Roten meist so erschreckend schwach, dass den Kommentatoren der Branche sogar der Griff in die reichhaltige Floskelkiste unangemessen schien. Selten hat Fußballdeutschland einen solchen kollektiven Leistungseinbruch erlebt. Erklärungsversuche, das allgemeine Rätseln um mögliche Traumatisierungen der Mannschaft versandete ergebnislos. Den letzten Strohhalm für den Verein und die Zukunft von Trainer Mirko Slomka sah man schließlich im Spiel beim SC Freiburg. Und tatsächlich gelang es den Niedersachsen, diese Begegnung zu gewinnen – mithilfe all des Glücks, das in den letzten Monaten abhanden gekommen schien. Und als der Schlusspfiff ertönte, konnte es jeder sehen: Das war für Hannover alles mögliche, aber kein normaler Sieg. Die Spieler in den Trikots mit der kleinen Eins darauf zeigten das, was viele Reporter oft zu beschwören versuchen: große Emotionen - pure, echte, ausgelassene Freude.
Und die Moral von der Geschicht'? Mittlerweile arbeiten Sportpsychologen mit den Hannoveranern. Im Fahrwasser der allgemeinen Berichterstattung wurde auch die Depression eines Spielers des FC St. Pauli öffentlich. Er begab sich nach einem Selbstmordversuch in Behandlung. Der offene Umgang - ein kleiner Fortschritt? Vielleicht. Nicht zuletzt die unschöne Geschichte um Michael Kempter und Manfred Amerell erinnert aber an ein weiteres Thema, das im Fußball ähnlich tabuisiert ist wie die eigene Schwäche: Homosexualität. Jeder, der mit dem Fußball zu tun hat, ob als Spieler, Trainer, Fan oder Berichterstatter, weiß: Es gibt eine große Zahl von Spielern, die ein Doppelleben führen – aus nackter Angst. Eine Angst, die wohl leider nicht unberechtigt ist.
Offenheit, Respekt und eine Atmosphäre, in der Schwäche keine Schande ist.
Am Ende bleibt als Lehre wohl nicht mehr als das schlichte Besinnen auf Werte, die unsere Gesellschaft auszeichnen sollten. Offenheit, Respekt und eine Atmosphäre, in der Schwäche keine Schande ist. Werder-Trainer Thomas Schaaf soll vor dem ersten Training nach dem 10. November zu seiner Mannschaft gesagt haben: „Scheut euch nicht, jemandem zu helfen! Scheut euch nicht, Hilfe zu suchen! Achtet aufeinander!“ Das ist so schlicht wie wertvoll und vielleicht die ehrlichste Lehre, die aus dem Leben und Sterben des Robert Enke zu ziehen ist.
Der Appell, diese Werte zu leben, ist nicht auf den Leistungssport beschränkt. Es gibt kein Indiz dafür, dass Profifußballer oder insbesondere Torhüter anfälliger wären für psychische Erkrankungen. Im Gegenteil: Fußballer sind aller Wahrscheinlichkeit nach seelisch genauso krank und auch genauso schwul wie der nicht spielende Rest – selbst wenn Gestalten wie Rudi Assauer und Mario Basler das auch im Jahre 2010 partout nicht glauben wollen. Sebastian Deisler hat sich nach seinem Karriereende ins Private zurückgezogen. Er hat ein Buch geschrieben und er ist Vater geworden. Auch Tobias Rau hat seine Karriere beendet. Der ehemalige Nationalspieler sah sich der Profiwelt nicht gewachsen. Nun studiert er und möchte Lehrer werden. Rau erklärt, damit habe er etwas gefunden, das ihn glücklicher macht: „Es gibt eben viel wichtigere Dinge als Fußball.“ Auch Robert Enke hat das einmal gesagt. Und trotzdem sah er an einem dunklen Abend im November nichts mehr, was ihn im Leben halten konnte.
Dieser Artikel erschien im TORWART Magazin 2010/01.
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