Liebe Torwart-Gemeinde, jetzt kommt ein Torhüter, den man sich besser merken sollte. Gut möglich, dass Jordan Pickford der Oliver Kahn seiner Generation wird. Oder um es mit dem Selbstbewusstsein eines Jordan Pickford zu sagen: Gut möglich, dass sich die Menschen irgendwann mal an Oliver Kahn als den Jordan Pickford seiner Zeit erinnern.
So selbstbewusst wie der 24-jährige Engländer präsentiert sich kein Torwart dieser WM. Und es nicht diese glitzerfunkelnde Facebook-Selbstvertrauen, Jordan Pickford ist offenbar sehr überzeugt davon, dass Jordan Pickford einer der besten Torhüter der Welt ist und völlig zurecht nach lediglich drei Länderspielen für die A-Nationalmannschaft Englands Stammtorwart bei dieser Weltmeisterschaft ist.
Pickford, ein Gewächs der landesweit berühmten Nachwuchsabteilung des AFC Sunderland, verdiente sich die ersten Sporen während diverser Leihgeschäfte. Eine harte, aber lehrreiche Schule, 2016 startete er mit Sunderland in seine erste Premier-League-Saison als Stammtorwart. Und stellte seine Qualitäten so eindrucksvoll unter Beweis, dass der FC Everton nach nur 29 Auftritten des Youngsters 25 Millionen Pfund für Pickford zahlte. Nie war ein englischer Keeper teurer, aber was bedeuten schon Transfersummen in inflationären Zeiten wie diesen. Wichtiger sind Zahle wie diese: 10.11.2018. 0:0. Da feierte Pickford sein Debüt. Gegen Deutschland, den Weltmeister. Große Sportler nutzen ihre Chancen. Pickford brillierte mit zwei Glanzparaden gegen die Schüsse heranstürmender Weltmeister und weil auch Marc-André ter Stegen eine jener Aktionen zeigte, mit denen Torhüter ein ganzes Stadion erstaunen, sprachen hinterher alle von den beiden jungen Schlussmännern. Große Sportler haben auch Glück und sind manchmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Pickford selbst hat sich bereits mit der jüngeren Version des derzeit wohl besten Torwarts der Welt verglichen: „De Gea ist der Beste. Aber so weit wie er vor ein paar Jahren bin ich jetzt auch.“ So hat man zuletzt Oliver Kahn über eigene Qualitäten sprechen hören, die großen Keeper der vergangenen Dekade sind fast durchweg Typ Schwiegermamas Liebling. Pickford ist anders als De Gea, Manuel Neuer oder Marc-André ter Stegen. Emotional und sportlich. Unter den ohnehin in der Regel fußballerisch gut ausgebildeten Torstehern, diesen Liberos 2.0, ist Pickford der beste Kicker. (Was ihn übrigens sehr von Oliver Kahn unterscheidet.) Sein früherer Trainer David Moyes setzte ihn in Trainingsspielen gerne im Mittelfeld oder der Innenverteidigung ein. Vermutlich weil er es so unglaublich fand, dass ein Torhüter besser mit dem Ball am Fuß umgehen kann als einige Mitspieler. „Es ist, als würde man einem richtig guten Mittelfeldspieler zusehen“, berichtet Moyes begeistert. Aber Trainingsspiel ist Trainingsspiel, und im Tor ist der Engländer offenbar noch stärker als im Feld. Obwohl die, die ihn schon mal über einen längeren Zeitraum beobachtet haben, nicht müde werden, seine Feldspielerqualitäten lobend zu erwähnen. Wie sein früherer Trainer in Sunderland, Kevin Ball, der jüngst erzählte, wie er Pickford einst beim Abschlussspiel auf den Innenverteidigerposten schob: „Jordan liebte es. Er hätte ohne Problem in der Innenverteidigung stehen können.“
Seinen feinen linken Fuß setzt der 1,85 Meter-Mann anderweitig ein. Ähnlich wie Manuel Neuer, der einst die Fußball-Welt mit seinen unglaublich weiten und präzisen Abwürfen begeisterte, revolutioniert Pickford gerade die Abstöße. Regelmäßig leitet Gegenangriffe mit Abschlägen bis weit über die Mittellinie ein. Pässe, so präzise gespielt, als habe Toni Kroos mit rechts gegen den Ball getreten. Chris Kirkland, früherer Torwart beim FC Liverpool, sagt sogar: „Ich habe noch nie jemanden so gegen den Ball treten sehen wie Jordan. Ich hätte die Bälle niemals so weit schießen können.“
Für die Spielidee von Englands Nationaltrainer Gareth Southgate sind Pickfords Stärken Gold wert. Der frühere Auswahlspieler lässt seine Mannschaft überfallartige aus der eigenen Hälfte inszenieren, Ballverluste gegen diese Engländer bedeutet auch immer Gefahr. Ein Torhüter, der Bälle innerhalb von zwei Sekunden fangen und 60 Meter weit zum Mitspieler bringen kann, ist deshalb eine echte Waffe. Es gibt Spötter, die behaupten, einen besseren Verteidiger hat England seit Jahren nicht hervorgebracht. Und dieser Verteidiger darf sogar die Hände zur Hilfe nehmen.
Pickford, das ist unübersehbar, wurde hervorragend ausgebildet. Aber in punkto Technik und Taktik sind heutzutage viele Torhüter weit entwickelt. Aus dieser Masse an Klasse kann man nur herausstechen, wenn man Qualitäten mitbringt, die man nicht lernen kann. Pickford gehört offenbar zu jenen glücklichen Menschen, denen man von klein auf das Gefühl gegeben hat, etwas Besonderes zu sein, er jedenfalls scheint felsenfest davon überzeugt, den Ansprüchen, die an ihn gestellt werden, gerecht zu werden. Oder um es mit dem großen Torwart-Philosophen Oliver Kahn zu sagen: „Wir brauchen Eier.“ Das war als Torhüter noch nie verkehrt.
Die „Three Lions“ scheinen also über einen Torhüter zu verfügen, mit dem man Weltmeister werden kann. Fragt sich nur: wann. Aber selbst die Zeit ist ja auf der Seite des Wunderknaben. Pickfords Vorgänger Joe Hart stand 75 Mal für England im Tor. Jordan Pickford, der Torwart spielende Innenverteidiger, hat gerade erst angefangen.