Es fällt nicht schwer, sich den sehnigen Franzosen Hugo Lloris in einem Anzug von der Stange hinter dem Empfangstresen der örtlichen Sparkasse vorzustellen, wie er älteren Damen in aller Ruhe und Bedächtigkeit die Vorzüge vom neuen Zins-Modell erklärt.
Nur wenige Spitzentorhüter wirken so unsichtbar, so zurückhaltend wie der inzwischen 31-jährige Schlussmann der französischen Nationalmannschaft. Vielen seiner Landsleute galt er gar als zu still, sie machten sich jahrelang über seine konsequent langweiligen Interviewaussagen lustig und beschieden ihm die Charaktereigenschaften einer Baguettestange. Und Lloris? Blieb einfach weiter still und machte seinen Job. Und zwar so konstant gut, dass er in den zwei Jahren nach der Heim-EM 2016 gleich zwei Rekorde gebrochen hat: Noch nie hat ein französischer Torwart so viele Länderspiele gemacht wie er, noch nie trug ein französischer Nationalspieler so häufig die Kapitänsbinde wie Lloris.
„Er redet nicht viel, aber wenn wir ihn brauchen, ist er da.“
Fabien Barthez, 1998 mit Frankreich Weltmeister und im Vergleich zu Lloris ein wilder Partylöwe, urteilte stellvertretend für viele andere Kenner: „Ich bin ein großer Fan von ihm, er ist mein Liebling. Er sieht die Welt wie ich sie sehe.“ Denn auch wenn Barthez aufregendere Interviews gab, auch wenn er eine öffentlichkeitswirksame Beziehung mit einem Model führte und auch wenn Lloris so ganz anders ist: im Strafraum sieht er die Welt, wie jeder große Keeper. Es ist die Mischung aus Ruhe, Zuversicht, klaren Anweisungen, einer natürlichen Autorität und technischen Fertigkeiten, die Lloris zu einem Weltklasse-Mann machen. Oder wie es Mitspieler Bacary Sagna auf den Punkt brachte: „Er redet nicht viel, aber wenn wir ihn brauchen, ist er da.“
In 15 Spielen ohne Gegentor
Lloris fährt mit dem Selbstvertrauen eines Torhüters zur WM, der mit seiner Vereinsmannschaft eine überragende Saison spielte (Tottenham wurde Dritter, Lloris blieb in 1 blieb in 15 Spielen ohne Gegentor und kassierte in 36 Partien nur 35 Gegentreffer) und sich in einem für Torhüter perfekten Alter befindet. Seit mehr als zehn Jahren wird Lloris als Stammtorwart eingesetzt, er besitzt die internationale Erfahrung von 96 Länderspielen, darunter acht WM-Partien und elf EM-Spielen. Außerdem gilt er noch immer als einer der besten Fußballer unter den Top-Torhütern, verfügt längst über eine exzellente Strafraumbeherrschung und begeisterte auch in der abgelaufenen Saison erneut mit spektakulären Reflexen und Paraden, gerade bei schwierigen Flachschüssen. Sensationelle 37 gegnerische Angriffe vereitelte Lloris noch vor dem Strafraum, „Sweeper clearances“ nennen das die Briten, was sich in etwa mit „Libero-Rettungen“ übersetzen lässt.
Zum Vergleich: Manchester Uniteds David de Gea kam in der vergangenen Spielzeit auf sechs solcher Rettungstaten. Auch in Russland wird Hugo Lloris vermutlich eher kunstvoll schweigen und seine Kunst lieber auf dem Rasen zeigen. Seinen Mitspielern dürfte es recht sein. Für den Franzosen ist dieses Turnier ohnehin ein Highlight: aller Voraussicht nach wird er dort sein 100. Länderspiel absolvieren.